20:06 Uhr, als es passierte

(Für alle, die lieber Ebooks lesen: “20:06 Uhr – Das Ebook“)

“Einatmen! Luft anhalten! Ausatmen! Weiter atmen!”
Ich befolge die Anweisungen genauso mechanisch, wie sie von hinten aus dem Nebenzimmer schallen. Das Gerät über mir sieht seltsam aus. Eine Mischung aus weißem 80er-Jahre-Plastik und modernster Technologie. Ich möchte nicht mehr liegen, aber es müssen noch weitere Aufnahmen gemacht werden. Die ältere Frau, deutlich kleiner als ich, ist schweigsam, spricht nur mit mir, wenn ihr Beruf es erfordert. Ich bin ebenso schweigsam, möchte nicht reden, will in Ruhe gelassen werden. Und ich will hier nicht mehr liegen, will endlich nach hause in mein Bett. Was ich nicht weiß: Ich habe gerade erst die Hälfte des ganzen Prozederes hinter mir für diese Nacht.
Sie richtet das Gerät über mir neu aus und geht wieder in ihr Nebenzimmer. Scheint ja richtig gesund zu sein, diese Röntgenstrahlung. Ich denke an Bruce Banner. Nicht der in den neuen Hulk-Filmen sondern aus der Serie, die im Fernsehen lief. Dort sieht man Bill Bixby am Anfang in so einer seltsamen Apparatur sitzen sieht, in der er sich dann der Gammastrahlung aussetzt.
Das ich hier liege, hat sich kein Autor ausgedacht, auch wenn ich mehrmals daran denke, im falschen Film zu sein. Dicht gefolgt von dem Verdacht, jeden Moment aufzuwachen. Doch ich bin in der Realität. Gerade war mir noch wichtig, zu hause an meiner Kurzgeschichte weiter schreiben zu können, im nächsten Augenblick sorge ich mich um das Leben meines Vaters.
Wir sind zum Schwimmen gefahren, wie jeden Dienstag. Anders als sonst, haben wir heute nicht unser Familienauto, denn das hat mein Vater bei der Werkstatt abgegeben. In zwei Wochen erst bekommen wir unser neues Auto und das bisherige hatte Probleme mit dem Anlasser.
Wir steigen in den Wagen, den uns die Werkstatt geliehen hat, ich mache mein Smartphone an und checke erstmal Twitter und Facebook. Die letzten Sekunden Normalität.

“Tschüss und gute Besserung!”, sagt die Frau, bevor sie den Röntgen-Raum verlässt.
Stille.
Ich denke nach und mir wird bewusst, dass es in einem Krankenhaus sehr gemein wäre, Patienten mit “Auf Wiedersehen” zu verabschieden.
Ich liege immer noch mit heruntergezogener Hose auf dem Tisch, als eine andere Frau hereinkommt. Schon von weitem kündigt sie mit einem fröhlichen Satz auf den Lippen ihre Anwesenheit an. Endlich eine gesprächigere, lustige Frau!, denke ich. Sie lacht darüber wie ich so daliege, und ich muss auch lachen, während sie mir hilft, mich anzuziehen. Dann rutsche ich auf die Liege, die sie neben den Röntgentisch schiebt und werde in ein anderes Zimmer gefahren.
“Dort ist auch ihr Vater, der ist aber gerade auf Toilette!”, sagt sie. Ein kleines Zeichen der Normalität, dort ist er öfter.

“Ja, rechts ist frei!”
Durch die undichten Büsche sehe ich keine Scheinwerfer, als ich durch die Seitenscheibe die Straße hinunter blicke. Es ist dunkel, die Zeitumstellung für den Winter nur noch wenige Wochen entfernt.
Nach links oben ist die Straße recht schwer einzusehen, der Berg erreicht dort seinen Höhepunkt und die Ausfahrt des Schwimmbades befindet sich gleich dahinter.
Mein Vater fährt los, gibt scheinbar Vollgas. Später wird mir bewusst, dass es die bremsenden Reifen des Sprinters gewesen sein müssen, der mit Karacho genau in die Fahrertür donnert.

Die Frau schiebt mich auf der Trage erneut durch mehrere Gänge, während ich die Augen schließe. Die tausendfach gelöcherten Bleche an der Decke des Flurs machen mich schwindelig.
Wir führen ein kurzes Gespräch, dass ich mit der Tatsache beginne, dass dies mein erster Autounfall ist. Sie erzählt mir ihre Auto-Unfall-Geschichte, die bisher auch ein einmaliges Erlebnis für sie gewesen war.
“Hatten Sie Blut im Urin?”, fragt der Arzt meinen Vater, als ich in das Zimmer gefahren werde. Ich muss lachen, auch weil ich froh bin, dass er im Raum steht und es ihm scheinbar gut geht.

Das Bild, das ich jetzt sehe, habe ich schon mal gesehen. Meine Fantasie ist ziemlich ausgeprägt und ich male mir ständig irgendwelche schrecklichen Dinge aus. Als Autor keine schlechte Fähigkeit, als Mensch aber frage ich mich, was mit mir nicht stimmt. Jetzt ist das Bild direkt vor meinen Augen. Der Sprinter fährt in unsere Seite, die Scheinwerfer blenden mich und mein Smartphone gleitet mir, ebenso wie mein vorheriges Leben, aus den Händen. Scherben kommen von links und landen auf meinem Schoß. Ich schaue wieder nach links, kann erst gar nicht glauben was gerade passiert ist, denke sogar erst, es ist eine Lapalie, eine Kleinigkeit, wieder meine Fantasie, die mit mir durchgeht, so unglaublich ist dieser Moment.
Ich schaue zu meinem Vater, er starrt ungläubig mit weit aufgerissenen Augen umher, so als wäre er aus einem Traum aufgewacht und würde nicht wissen, wo er ist. Seine Brille sitzt nicht mehr auf seiner Nase. Schweißperlen sind auf seiner Glatze, die nach dem Schwimmen immer dort sitzen.
“Papa, was ist los, geht es dir gut?”
Diese Frage stelle ich laut und mehrmals.

An die Krankenhausdecke starrend denke ich an meine Mutter. Es ist bereits 21:30 Uhr, normalerweise wären wir vor einer Stunde zu hause gewesen.
Ich möchte sie anrufen, aber mein Vater hat das bereits erledigt.
“Sie dachte, wir wären noch einen trinken gegangen!”, sagt er.
Ich werde nachdenklich. Wieso haben wir das nicht mal gemacht? Muss ich ständig ein Stockwerk höher am Computer sitzen und mich nur zum Abendessen bei meinen Eltern zeigen lassen?
Ich würde jetzt gerne die Stimme meiner Freundin hören. Ich schaue auf mein Handy und lese eine Whats App – Nachricht von ihr.
“Gute Nacht, Schatz! Ich bin so happy, dass ich dich hab!”
Morgen fährt sie auf die Buchmesse nach Frankfurt. Mir geht es gut, also warum sollte ich sie beunruhigen und ihr womöglich den Schlaf rauben?
Ich schreibe ihr zurück, wünsche ihr ebenfalls eine gute Nacht und täusche Normalität vor. Dann fange ich an, mit einer Notiz-App Stichwörter für diese Geschichte aufzuschreiben. Ich will diesem Ereignis einen Sinn geben und mir die Warterei auf den Arzt erträglicher machen.

Ich fasse ihn an, ziehe an seiner Jacke, als wolle ich ihn wachrütteln, als wolle ich sagen “Verdammt nochmal, reiß dich zusammen, du musst doch merken, dass du Schmerzen hast!”
Er schaut mich an, noch immer sitzt der Schrecken in seinen Augen.
“Nein, mir geht’s gut!”
Ich glaube ihm nicht. Seine Seitenscheibe ist komplett zersplittert, der Rahmen sieht aus, als hätte man das Glas fein säuberlich heraus getrennt. Der Wagen fuhr genau in seine Tür, er muss doch verletzt sein, den Arm gebrochen haben oder sonst irgendwas. Blut sehe ich keines.
Ich glaube ihm nicht.
“Das ist gerade nicht wirklich passiert! Scheiße!”, sage ich. Langsam komme ich zu mir, begreife was passiert ist, und was zu tun ist. Und mir kommt auch in den Sinn, dass sich mein Vater die Schuld geben wird für diesen Unfall. Ab jetzt funktioniere ich nur noch. Notarzt und Polizei müssen verständigt werden und ich suche mein Smartphone. Als ich mich abschnalle fällt es vor meine Füße. Ich hebe es auf, öffne die Tür und steige aus.
Ich blicke über das Autodach auf den Sprinter. Eine Person steigt aus, schmale Erscheinung, mit Arbeitskleidung und kurzen Haaren. Schwankend torkelt sie auf der Straße umher und hält sich das Gesicht, als würde sie nicht glauben können, was gerade passiert ist. Auf meinem Smartphone suche ich den Notruf-Button, den ich sonst verfluche, weil ich ihn immer zufällig betätige. Jetzt finde ich ihn nicht.
“Meine Brille!”, sagt mein Vater und hebt die Arme, um unter sich blicken zu können.
Die Person, die gerade noch schwankend auf der Straße stand, liegt jetzt auf dem Boden.
Ich wähle 110 über das Tastenfeld.

Die sympathische Helferin kommt wieder, unterbricht meine Schreibarbeit und nimmt mir Blut ab. Da ich gerade einen Roman schreibe mit dem Thema Blut, frage ich sie ein paar Dinge, die sie mir auch beantwortet. Ich will aus der Situation das Bestmögliche machen.
Nachdem ich das dritte Mal gepiekst wurde, muss ich wieder warten. Mein Vater hat auf einem kleinen Polsterhocker neben meiner Liege Platz genommen.
“Lustig, ich wurde in diesem Krankenhaus mehr verletzt, als beim eigentlichen Unfall!”, sage ich zu ihm und hebe meine Hände. An der linken immer noch die Kanüle sowie der neue Einstich in der Armbeuge, an der rechten ein kleines Stück Verband, von einem Pflaster festgehalten und mit einem kreisrunden Blutfleck versehen. Ich denke zurück an die blonde Sanitäterin am Unfallort.

Während ich auf eine Stimme am anderen Ende warte, fragt mich mein Vater erneut nach seiner Brille. Ich rede mit ihm, kommentiere was ich gerade mache, um ihm zu zeigen, dass ich da bin. Geistesgegenwärtig schaue ich unter das Auto und sehe seine Brille in den Scherben liegen. Ich reiche sie ihm, und im gleichen Moment meldet sich ein Polizist. Insgesamt dreimal muss ich erzählen, was passiert ist, jedes Mal einer anderen Person, bis endlich Polizei und Notarzt losgeschickt werden.
Eine Menge Leute kommen zum Unfallort, ein dicklicher Mann kommt zu uns und sagt, dass es der Frau gut geht. Weiter oben auf dem Bürgersteig liegt sie und wird von mehreren Personen versorgt.

“Drehen Sie sich ein wenig zur Seite, bitte!”
Der Arzt schiebt ein Gerät über meinen Rücken. Ultraschall, wie bei einer Schwangeren. Oder wie bei Ellen Ripley in Alien 3, als sie entdecken, dass sich ein Alien in ihrem Bauch eingenistet hat. Großartiger Film-Moment!
Jetzt ist mir kalt, der Arzt schmiert noch einmal Gel auf den Scanner, bevor er mich erneut absucht. Ein weiterer Facharzt soll sich das anschauen, nur um sicher zu gehen, meint er. Kurz darauf muss er das Gerät wechseln und der Arzt ist auch ein anderer.
Der neue Arzt hat dunkelbraune Haut, scheinbar Türke, ich kann es nicht genau sagen. Er tastet mich ab und fragt mit gebrochenem Deutsch, ob ich Schmerzen habe. Als er auf meine untere, linke Rippe drückt spüre ich einen Stich. Dann kommt ein neues Gerät mit flacherem Bildschirm und scheinbar besserem Scanner. Beide Ärzte stehen neben mir, schauen auf den Bildschirm, während der Facharzt  den Scanner über meinen Rücken schiebt. Der andere tippt plötzlich auf den Bildschirm und lässt seinen Finger dort. Ich muss auf Befehl wieder einatmen, die Luft anhalten und ausatmen, bis ein Drucker ein Blatt Papier ausspuckt. Ich beobachte das Gesicht des Arztes, der den Scanner weiter über meinen Körper schiebt und warte auf einen kleinen, zuckenden Muskel seines Mundes oder der Augen, der mir sagt, ob das gut ist oder schlecht, was er sich gerade anschaut. Seine Miene ist unlesbar, aber ich will es jetzt wissen.
“Alles cool?”, frage ich mit gespielter Lockerheit.
“Ja, alles gut!”, sagt der Arzt.
“Ziehen Sie bitte Hose und Unterhose runter!”
Ich habe keine Ahnung, was jetzt kommt, aber ich mache es einfach. Ist jetzt auch egal. Ich bin frei unten rum, der Arzt schaut genau eine Sekunde auf meinen Penis und gleich darauf kann ich mich wieder bedecken.
Bei all dem Prozedere ist mein Vater anwesend. Ihm geht es gut, danke lieber Gott! Aber er macht sich Vorwürfe, muss mit ansehen wie ich, sein Sohn, hier liege und von den Ärzten genervt werde. Mich stört es, dass er hier ist, er soll sich keine Sorgen machen und vor allem keine Vorwürfe.

Sirenen sind zu hören und werden immer lauter. Mein Vater ist mittlerweile aus der Beifahrerseite gestiegen. Ich gehe um das Auto, und sehe die eingebeulte Tür, die wie benutzte Alufolie aussieht. Das Vorderrad ist umgeknickt. Die Schnauze des Sprinters ist stark eingedrückt, Flüssigkeit läuft aus dem Wagen.
Ich sehe, wie Notärzte zu der Frau rennen. Kurz darauf werden auch mein Vater und ich versorgt. Wir setzen uns auf zwei kegelförmige Steine am Straßenrand und bekommen nervige Halskrausen umgeschnallt. “Da man nicht wissen kann, ob nicht doch etwas mit der Halswirbelsäule ist!”, sagt der junge Sanitäter.
Polizisten kommen dazu, fragen nach Papieren. Ich muss mehrmals zu dem  zerstörten Wagen, ziehe eine Mappe aus dem Handschuhfach und eine Ledermappe aus der Sonnenblende.
Sanitäter stellen Fragen, Polizisten stellen Fragen. Eine junge Dame, die vor mir kniet, will mir einen “Zugang” legen. “Damit wir, falls etwas nicht stimmt, schneller Medikamente verabreichen können!”, sagt sie. Ich verstehe nur Bahnhof und lasse sie einfach machen.

“Die Milz scheint keinen Riss zu haben, bei den Rippen sind wir uns nicht sicher und möchten daher noch einmal Röntgen!”
Der Arzt, der seit meiner Ankunft mich und meinen Vater betreut, ist recht jung, macht einen kühlen, sachlichen aber auch kompetenten Eindruck. Was wohl der Preis war für diesen Beruf? Viele Wochenenden fielen bestimmt dem Studium zum Opfer. Zeit, in der andere mit ihren Kumpels um die Häuser ziehen. Eine der vielen Gedanken, die mir an diesem Abend durch den Kopf gehen.
Auch ich mache mir Gedanken um meinen Job. Es gibt bestimmt Sinnvolleres, was ein Mensch tun kann, als ständig am Computer zu hocken. Anderen Menschen helfen, zum Beispiel. Etwas Gutes tun, dem Leben einen maximal möglichen Sinn verleihen.
Erneut geht es in den Röntgenraum. Gleiches Prozedere nur diesmal im Stehen. Immerhin.
Nach ein paar Minuten kann ich zurück zu meinem Vater, der immer noch neben meiner Liege sitzt. Ich habe ihn noch nie weinen sehen, auch an diesem Abend werde ich nicht sehen, wie Tränen seine stoppeligen Wangen runter laufen. Aber er atmet tief ein, so wie auch ich es mache, wenn ich meine Tränen unterdrücken möchte.
“Oh Mann, ich will nicht mehr leben!”, sagt er.

Nachdem sie in meinen rechten Handrücken gestochen hat, flucht sie und erzählt mir etwas von Venenklappen. Dann folgt ein Stich in meinen linken Handrücken, mit  Erfolg. Zu jedem anderen Augenblick hätte es weh getan, aber nach diesem Unfall ist mir egal, was in mich rein gestochen wird. Vielleicht liegt es auch an dem Adrenalin in meinem Körper.
Als sie den Beutel an den Schlauch hängen, der in meiner Hand steckt, spüre ich, wie die kalte Flüssigkeit in meinen Körper läuft. Ein seltsames, unangenehmes Gefühl.
Blutdruck wird gemessen. Tausend Hände fummeln an mir herum, während ich die gaffenden Leute am Straßenrand beobachte. Ich schaue nach rechts zu meinem Vater, um den ich mir mehr Sorgen mache als um mich.
Sie wickeln ihn in eine gold-silberne Folie ein, warum weiß ich nicht.
Die junge Dame und ihr Kollege begleiten mich zum Krankenwagen. Er hält den Beutel mit der Flüssigkeit, der zu meiner Hand führt.
Die Fahrt ist sehr holprig und ich muss weitere Fragen beantworten, deren Antworten die junge Frau notiert. Nach nur zwei Minuten sind wir im Krankenhaus, und ich werde liegend aus dem Wagen gezogen. Unser Unfall war nicht weit entfernt.
Es ist unangenehm zu liegen, und zu sehen, wie die Decke sich über einem bewegt. Wir fahren durch die Gänge des Krankenhauses, bis ein Arzt mich begrüßt. Wieder strömt Hektik auf mich ein. Meine Krankenkassenkarte wird erfragt, der Arzt tastet mich ab und fragt nach Schmerzen.
Ich sage dem Arzt, das mein Kopf dröhnt und eine Stelle am Rücken weh tut, während seine Hände meinen Körper abdrücken. Es ist so eine Art Schmerz, wie man ihn hat, wenn man über Nacht falsch gelegen hat und morgens dann aufsteht. Ich bin genervt und hoffe, bald wieder nach hause zu können.

Drei Stunden später sind die Untersuchungen beendet. Ich gebe einen kleinen, warmen Becher mit meinem Urin ab und warte auf das Ergebnis. Negativ. Keine Verletzung der Harnröhre.
Ich habe eine Prellung am Rücken, mein Vater nur ein paar Schrammen am linken Arm von den Scherben, die auf ihn geflogen sind. Sein Rücken schmerzt leicht, aber nach dem Röntgen konnte auch hier Entwarnung gegeben werden.
Wir werden mit einem Rezept für Schmerzmittel und einem Krankenschein entlassen.

Der Taxifahrer raucht eine Zigarette. An jedem anderen Tag hätte es mich gestört, jetzt würde ich selber gerne eine Rauchen. Ich sitze auf dem Rücksitz und der Fahrer fährt nicht gerade zimperlich. Bei jeder Kreuzung schaue ich konzentriert auf die Nebenstraßen, sehe wieder die Scheinwerfer auf mich zurasen und spüre den Aufprall, der mich ruckartig nach rechts schleudert.
Ich hoffe, die Fahrt ist bald vorüber.
An diesem Abend werde ich mir meiner Vergänglichkeit bewusst, immer wieder. Aus Scham habe ich im Krankenhaus mehrmals meine Tränen unterdrückt.
Zu hause kannst du weinen!, habe ich mir gesagt. Alles rauslassen und sich danach besser fühlen!

23.30 Uhr. Ich lächele, als ich die Haustür reinkomme, will meiner Mutter damit zeigen, dass alles gut ist.
Wir umarmen uns.
Im Wohnzimmer denke ich an “The Others” mit Nicole Kidman. Vielleicht sind wir ja Geister und eigentlich gestorben bei dem Unfall. Das wäre es doch, die größte Verarschung, die man erfahren kann: Nach dem Tod geht es genauso weiter wie zuvor, nur in einem anderen Universum. Kein Himmel, keine Engel, kein Fegefeuer, keine Dämonen.

Das ekelhafte “Was wäre, wenn…” – Spiel in meinem Kopf beginnt. Ich denke an die Geschwindigkeit des Sprinters, der uns gerammt hat. Mir wird bewusst, dass ich es normalerweise bin, der nach dem Schwimmen nach hause fährt. Mein Vater braucht immer länger in der Umkleide wie ich, und der Parkplatz ist hinter dem Schwimmbad, so dass ich von dort immer vorgefahren komme, damit er nicht so weit laufen muss.
Was wäre gewesen, wenn ich auf der Fahrerseite gesessen hätte? Ich bin nicht so muskulös wie mein Vater und habe auch nicht so viel Speck auf den Rippen wie er.
Verschiedene Dinge sind zusammenkommen und wer kann mir sagen, dass nicht genau das unser Glück war? Das ich unter ‘normalen’ Umständen vielleicht gestorben wäre oder schwer verletzt? Überrascht stelle ich fest, dass man dieses “Was wäre wenn” – Spiel auch in die positive Richtung spielen kann.
Jetzt, beim Schreiben bemerke ich, dass gestern der 08. Oktober war.
Acht. Meine Glückszahl.
Auf meinem Smartphone schaue ich nach, wann ich den Notruf gewählt habe: 20:06 Uhr. Die Quersumme ergibt acht. Klingt esoterisch und albern, aber auch die 26 war schon immer meine Glückszahl.
War es gut, dass der Anlasser unseres Wagens kaputt ging?
War dieser Unfall ein Zeichen, ein Warnschuss?

“Mach was Sinnvolles!”
“Sei ein guter Mensch!”
“Gesundheit ist wichtiger als Geld!”
“Liebe deine Freundin!”
“Kümmere dich um deine Freunde und deine Familie!”
“Verplempere nicht deine Lebenszeit!”
Ich denke an “Sieben Leben” mit Will Smith und an meinen immer noch nicht ausgefüllten Organspendeausweis.
Mir wird bewusst, dass ich innerhalb von vier Stunden ein anderer Mensch geworden bin.

In der Küche fängt mein Vater an, den Lyoner in den Kochtopf zu legen. Schon vor drei Stunden hätte es Abendessen geben sollen. Er macht den Herd an, kommt zu mir und umarmt mich. Ich spüre seinen warmen, weichen Körper.
“Wir sind noch da!” flüstere ich ihm ins Ohr.
Wir decken gemeinsam den Tisch im Wohnzimmer, meine Mutter kommt auch dazu und wir setzen uns.
Alle drei Stühle sind besetzt.
So wie gestern Abend.
So wie vorgestern Abend.
So wie immer.

Ich bin unendlich dankbar.

 

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2 Replies to “20:06 Uhr, als es passierte”

  1. *careful hug*
    Weinen – ich weiß, dass viele Männer das nicht mögen – aber es spült Stresshormone aus dem Körper. Und es ist absolut nicht schlimm, wenn man mal heulen muss. Schock macht blöde Sachen mit dem Körper und so ein Unfall, der kann einen sehr, sehr nachdenklich machen.
    Ich bin froh, dass es euch gut geht, Ben.

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